Der gelangweilte Schriftsetzer als Dichter

Von Johannes Staudenmaier

Am 18. Dezember 1875 wurde der 18jährige Julius Völker aus Scheuerfeld im Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha in das herzogliche Landratsamt einberufen, vernommen und "wegen dieser von ihm begangenen Ungehörigkeit gehörig zurechtgewiesen".

Doch was hatte der junge Mann, Schriftsetzer beim renommierten Verlag Roßteutscher, angestellt, dass ihm von den Autoritäten derart der Kopf gewaschen werden musste? 

Ein Blick in die Akte, einige Seiten bzw. Tage zurück, gibt Aufschluss über das Geschehene: Am 4. Dezember erschien der Schultheiß von Scheuerfeld, also der Gemeindevorsteher, Lutter im Landratsamt, da er "es für [s]eine Pflicht hielt, etwas zur Kenntnis der Behörde zu bringen". In seiner Eigenschaft als Schultheiß war er in Scheuerfeld auch für die Durchführung der Volkszählung des Deutschen Reichs 1875 zuständig. Einer seiner Zähler, Peter Baudler, brachte jedoch aus einem Haushalt eine fehlerhafte Liste mit. Die Familie Völker hatte ihre "Haushaltungsliste" nicht mit korrekten Daten befüllt, sondern sie durchgestrichen und mit fragwürdigen "Bleistifteinträgen" abgeben wollen. Als Baudler noch an der Haustür die anwesende Frau, Susann Völker, fragte "was denn das wäre? erwiderte die Völker, ihr Mann habe gesagt, so wäre sie [die Liste] richtig, weiter bräuchte es nichts, sie wollten blos wissen, wieviel die Leute hätten, damit sie recht Steuern bekämen."

Wer nun aber einen Akt zivilen Ungehorsams erwartet, wird enttäuscht. Der am 17. Dezember in das Landratsamt einbestellte Ehemann Johann Völker gab sich recht kleinlaut, bestritt die vermeintliche Aussage und schob alles auf seinen Sohn Julius. Denn diesen hatte er mit dem Ausfüllen der Liste beauftragt, weil er selbst einige Tage auf Reisen gegangen war.

Am Tag darauf erschien daher der junge Schriftsetzer vor der Behörde "und geständigte auf Vorhalt, daß die Bleistifteinträge und Striche in der […] Haushaltungsliste […] von ihm herrührten und auf eigne Faust von ihm gemacht worden seien." Nach der eingangs erwähnten gehörigen Zurechtweisung verziehen ihm die Beamten den Streich und schickten ihn wieder nach Hause. Was aber waren die ominösen Bleistifteinträge, die die Aufmerksamkeit der herzoglichen Amtsträger so erregt hatten? Julius Völker hatte die Haushaltungsliste mit einem Gedicht versehen, das einem auch heute beim Ausfüllen so manchen Formulars in den Sinn kommen möchte:

Ach ich bin so müde
Ach ich bin so matt
Möchte lieber schlafen gehen
Die Arbeit hab' ich satt!
Staatsarchiv Coburg LRA CO 1276 - Gedicht von Julius Völker auf dem Formular zu Volkszählung des Deutschen Reichs 1875

 

Der Text stammt von Johannes Staudenmaier, Leiter des Staatsarchivs Coburg. Wir bedanken uns herzlich für die Bereitstellung des Textes über das launige Gedicht des Julius Völker von 1875.

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